Wahrheit ist ein umstrittener Begriff. Die einen streiten
ihre Existenz grundsätzlich ab - was an sich schon wieder eine Wahrheit
wäre. Die anderen sehen sie in einem grundlegenden Glauben, nennen sie "Wissen"
und verstehen kaum, warum andere sie zu übersehen scheinen. Aber dass es einen
Unterschied geben kann zwischen dem, was man sagt, glaubt und weiß, verstehen
alle. Auch was davon Vorrang hat, falls es darauf ankommt.
Wenn Sie wissen, dass Sie auf einem Stuhl sitzen, und jemand
anders kommt herein und behauptet, Sie säßen auf einem Ball, woran unterscheiden
Sie dann, was wahr ist? An Ihrem Sitzgefühl? An dem was Sie sehen? Oder woran Sie
sich erinnern, als Sie das letzte Mal von der Toilette kamen? Wahrscheinlich
anhand aller drei. Drei Standpunkte gegen einen - das muss genügen.
Falls Sie aber mit verbundenen Augen meditieren und schon
lange nicht mehr draußen waren, sind sie dann auch so sicher? Ja? Sie fühlen
immer noch den Untergrund, der ihrer Erfahrung nach zu einem Stuhl gehört. Sie
lassen diese Einheit aus Gefühl und Erfahrung wieder vorgehen. Der andere hat Unrecht.
Was nun, wenn er Ihnen das Sitzding bei verbundenen Augen untergeschoben
hat und es sich komisch anfühlt? Er redet wieder von "Ball". Sie
haben kaum noch eine Vergleichsmöglichkeit.
Nun zweifeln Sie und sind geneigt, ihm zu glauben, nicht
wahr? Das Vertrauen in den anderen zählt jetzt mehr als der persönliche Eindruck.
Und wenn Sie ihm nicht
vertrauen? Dann bleibt Ihnen nur, die Augenbinde abzunehmen und sich einen
eigenen Eindruck zu verschaffen. Warum ziehen Sie diesen Eindruck vor? Weil er
Ihnen näher ist, Ihnen, dem
Betroffenen. Somit ist er intensiver, glaubwürdiger, als das Gerede des
anderen.
Jetzt stellt sich heraus, dass es sich um ein futuristisches
neues Sitzmöbel handelt, über dessen Einordnung man durchaus streiten kann.
Glücklicherweise kommt gerade ein zweiter Kollege hinzu und findet das Gerät
ballartig. Die Kollegin von nebenan kommt auch noch und definiert es als Ball. Und
als solcher wird es wohl in die Bürogeschichte eingehen, denn das ist die
Zusammenfassung der mehrheitlich vertretenen Standpunkte.
Sollten Sie dagegen immer noch auf dem Stuhl bestehen, haben
Sie schließlich Mühe, damit ernst genommen zu werden. Denn Sie sind nicht in Harmonie
mit der allgemeinen Wahrnehmung. Ebenso wenig war der erste Ballvertreter in
Harmonie mit Ihrem dreifachen Stuhleindruck (fühlen, sehen, erinnern), mit dem Sie
da wahrscheinlich recht hatten.
Was also ist wahr? Das wozu sich die meisten Standpunkte
zusammenfassen lassen und was dem Betroffenen näher ist.
Doch falls eins dem anderen widerspricht? Hier gilt es
nachzuforschen, woran das liegt und worin die größere Harmonie bestehen würde. Wer
Wahrheit finden will, muss sich so vielen Standpunkten wie möglich öffnen und sie alle einbeziehen. Bleibt
er dabei nahe am Untersuchungsgegenstand, stehen seine Chancen gut, das bestmögliche
Wissen herauszukristallisieren.
Kann er die anderen auf
diesem Weg überzeugen, verlagert
sich die Zusammenfassung der Standpunkte in die Nähe seines eigenen. "Offenbar
liegt er richtig." Kann er aber erst später
überzeugen, hatte er vielleicht dennoch rückwirkend
recht, weil die anderen die Beweglichkeit ihres
eigenen Standpunktes zu sehr eingeschränkt hatten - und dies nun einsehen.
So arbeiten wir uns zu einer immer umfassenderen Wahrheit vor.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch