Ernst Cassirer über Teil und Ganzes

Aus "Philosophie der Symbolischen Formen", Band I, Einleitung III

Jede »einfache« Qualität des Bewußtseins hat nur insofern einen bestimmten Gehalt, als sie zugleich in durchgängiger Einheit mit anderen und in durchgängiger Sonderung gegen andere erfaßt wird. Die Funktion dieser Einheit und dieser Sonderung ist von dem Inhalte des Bewußtseins nicht ablösbar, sondern stellt eine seiner wesentlichen Bedingungen dar. Es gibt demnach kein »Etwas« im Bewußtsein, ohne daß damit eo ipso und ohne weitere Vermittlung ein »Anderes« und eine Reihe von anderen gesetzt würde. Denn jedes einzelne Sein des Bewußtseins hat eben nur dadurch seine Bestimmtheit, daß in ihm zugleich das Bewußtseinsganze in irgendeiner Form mitgesetzt und repräsentiert wird. Nur in dieser Repräsentation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegebenheit und »Präsenz« des Inhalts nennen. Dies tritt sofort deutlich hervor, wenn wir auch nur den einfachsten Fall dieser »Präsenz«, wenn wir die zeitliche Beziehung und die zeitliche »Gegenwart« betrachten. Nichts scheint sicherer zu sein, als daß alles, was wahrhaft unmittelbar im Bewußtsein gegeben ist, sich auf einen einzelnen Zeitpunkt, auf ein bestimmtes »Jetzt« bezieht und in ihm beschlossen ist. Das Vergangene ist im Bewußtsein »nicht mehr«, das Zukünftige ist in ihm »noch nicht« vorhanden: Beide scheinen also seiner konkreten Wirklichkeit, seiner eigentlichen Aktualität gar nicht anzugehören, sondern in bloße gedankliche Abstraktionen aufzugehen. Und doch gilt andererseits, daß der Inhalt, den wir als das »Jetzt« bezeichnen, nichts als die ewig fließende Grenze ist, die das Vergangene vom Zukünftigen scheidet. Diese Grenze ist, unabhängig von dem, was durch sie begrenzt wird, gar nicht setzbar: Sie existiert nur im Akt der Scheidung selbst, nicht als etwas, was vor diesem Akt und losgelöst von ihm gedacht werden könnte. Nicht als starres substantielles Dasein, sondern nur als der schwebende Übergang vom Vergangenen zum Künftigen, vom Nicht-Mehr zum Noch-Nicht ist der einzelne zeitliche Augenblick, sofern er eben als zeitlicher bestimmt werden soll, zu fassen. Wo das Jetzt anders, wo es absolut genommen wird, da bildet es in Wahrheit nicht mehr das Element, sondern die Negation der Zeit. Die zeitliche Bewegung erscheint dann in ihm angehalten und dadurch vernichtet. Für ein Denken, das wie das Denken der Eleatik lediglich auf das absolute Sein hinzielt und in ihm zu verharren strebt, ruht der fliegende Pfeil – weil ihm in jedem unteilbaren »Jetzt« immer nur eine einzige, eindeutig bestimmte und unteilbare »Lage« zukommt. Soll dagegen der zeitliche Moment der zeitlichen Bewegung zugehörig gedacht, soll er, statt aus ihr herausgehoben und ihr entgegengesetzt zu werden, wahrhaft in sie hineingestellt werden: so ist dies nur dadurch möglich, daß in dem Moment als einzelnem zugleich der Prozeß als Ganzes mitgedacht wird und daß beide, Moment und Prozeß, für das Bewußtsein in eine vollkommene Einheit zusammengehen. Die Form der Zeit selbst kann für uns in keiner anderen Weise »gegeben« sein als dadurch, daß sich im Zeitelement die Zeitreihe nach vorwärts und nach rückwärts darstellt. Denken wir uns einen einzelnen Querschnitt des Bewußtseins, so können wir ihn als solchen nur dadurch erfassen, daß wir nicht lediglich bei ihm selbst verweilen, sondern in den verschiedenen Beziehungsrichtungen kraft bestimmter räumlicher, zeitlicher oder qualitativer Ordnungsfunktionen über ihn hinausgehen. Weil wir in dieser Weise im aktualen Sein des Bewußtseins ein Nicht-Seiendes, im Gegebenen ein Nicht-Gegebenes festzuhalten vermögen – darum allein gibt es für uns jene Einheit, die wir auf der einen Seite als die subjektive Einheit des Bewußtseins, auf der anderen Seite als die objektive Einheit des Gegenstandes bezeichnen.

 Auch die psychologische und erkenntniskritische Analyse des Raumbewußtseins führt auf die gleiche Urfunktion der Repräsentation zurück. Denn zunächst setzt alle Erfassung eines räumlichen »Ganzen« die Bildung zeitlicher Gesamtreihen voraus: Die »simultane« Synthesis des Bewußtseins kann sich, wenngleich sie einen eigenen und ursprünglichen Wesenszug von ihm ausmacht, doch immer nur auf Grund der sukzessiven Synthesis vollenden und darstellen. Sollen bestimmte Elemente zu einem räumlichen Ganzen vereinigt werden, so müssen sie zuvor im Nacheinander des Bewußtseins durchlaufen und gemäß einer bestimmten Regel aufeinander bezogen werden. Weder die sensualistische Psychologie der Engländer noch die metaphysische Psychologie Herbarts hat freilich begreiflich zu machen vermocht, wie aus dem Bewußtsein der zeitlichen Verknüpfung das der räumlichen entsteht – wie aus der bloßen Folge von Gesichts-, Tast- und Muskelempfindungen oder aus einem Komplex einfacher Vorstellungsreihen das Bewußtsein des »Beisammen« sich bildet. Aber das eine ist jedenfalls in diesen Theorien, die von ganz verschiedenen Ausgangspunkten herkommen, übereinstimmend anerkannt, daß der Raum in seiner konkreten Gestaltung und Gliederung nicht als fertiger Besitz der Seele »gegeben« ist, sondern daß er erst im Prozeß des Bewußtseins und gleichsam in seiner Gesamtbewegung für uns zustande kommt. Nun würde aber ebendieser Prozeß selbst für uns in lauter isolierte, gegeneinander beziehungslose Einzelheiten zerfallen und daher gar nicht die Zusammenfassung zu einem Ergebnis erlauben, wenn nicht auch hier die allgemeine Möglichkeit bestünde, das Ganze bereits im Element, wie das Element im Ganzen zu erfassen. Der »Ausdruck des Vielen im Einen«, die multorum in uno expressio, als welche Leibniz das Bewußtsein überhaupt charakterisiert, tritt somit auch hier bestimmend hervor. Zur Anschauung bestimmter räumlicher Gebilde gelangen wir nur, indem wir einerseits Gruppen sinnlicher Wahrnehmungen, die sich im unmittelbaren sinnlichen Erlebnis wechselseitig verdrängen, in einer Vorstellung vereinigen und indem wir andererseits diese Einheit wieder in die Verschiedenheit ihrer einzelnen Komponenten auseinandergehen lassen. In solchem Wechselspiel der Konzentration und der Analyse baut sich erst das räumliche Bewußtsein auf. Die Gestalt erscheint hier ebensowohl als mögliche Bewegung, wie die Bewegung als mögliche Gestalt erscheint.

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 Denken wir uns die sinnliche Grundlage für den Aufbau der Raumvorstellung in bestimmten Gesichts-, Bewegungs- und Tastempfindungen gegeben, so enthält doch eben die Summe dieser Empfindungen nichts von jener charakteristischen Einheitsform, die wir »Raum« nennen. Diese äußert sich vielmehr erst in einer derartigen Zuordnung, daß dadurch von jeder einzelnen dieser Qualitäten zu ihrer Gesamtheit übergegangen werden kann. Wir denken auf diese Weise in jedem Element, sofern wir es als räumliches setzen, schon eine Unendlichkeit möglicher Richtungen gesetzt, und der Inbegriff dieser Richtungen macht erst das Ganze der räumlichen Anschauung aus. Das räumliche »Bild«, das wir von einem einzelnen empirischen Gegenstand, etwa von einem Hause, besitzen, kommt nur dadurch zustande, daß wir eine einzelne, relativ begrenzte perspektivische Ansicht in diesem Sinne erweitern; daß wir sie nur als Ausgangspunkt und Anregung benutzen, um von ihr aus ein sehr komplexes Ganze räumlicher Relationen aufzubauen. In diesem Sinne verstanden ist der Raum nichts weniger als ein ruhendes Gefäß und Behältnis, in das die »Dinge«, als gleichfalls fertige, eingehen, er stellt vielmehr einen Inbegriff ideeller Funktionen dar, die sich gegenseitig zur Einheit eines Ergebnisses ergänzen und bestimmen. Wie wir im einfachen »Jetzt« der Zeit zugleich das Früher und Später, also die Grundrichtungen des zeitlichen Fortgangs, ausgedrückt fanden, so setzen wir in jedem »Hier« schon ein »Da« und ein »Dort«. Die einzelne Stelle ist nicht vor dem Stellensystem, sondern nur im Hinblick auf dasselbe und in korrelativer Beziehung zu ihm gegeben.

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 Was die einzelne Perzeption zur Perzeption macht, was sie als Qualität der »Vorstellung« etwa von einer beliebigen Dingqualität unterscheidet, das ist eben ihre »Zugehörigkeit zum Ich«. Diese entsteht nicht erst in der nachträglichen Zusammenfassung einer Mehrheit von Perzeptionen, sondern ist schon jeder einzelnen ursprünglich eigen. Ein ganz analoges Verhältnis besteht in der Verknüpfung der vielfältigen »Eigenschaften« zur Einheit eines »Dinges«. Wenn wir die Empfindungen des Ausgedehnten, des Süßen, des Rauhen, des Weißen zur Vorstellung des »Zuckers«, als eines einheitlichen dinglichen Ganzen, vereinen, so ist dies nur möglich, sofern schon jede einzelne dieser Qualitäten ursprünglich mit Rücksicht auf dieses Ganze bestimmt gedacht wird. Daß die Weiße, die Süße usf. nicht lediglich als Zustand in mir, sondern als »Eigenschaft«, als gegenständliche Qualität gefaßt wird – dies schließt die gesuchte Funktion und den Gesichtspunkt des »Dinges« schon vollständig in sich. In der Setzung des Einzelnen waltet also hier bereits ein allgemeines Grundschema, das dann, in der fortschreitenden Erfahrung vom »Ding« und seinen »Eigenschaften«, nur mit immer neuem konkreten Inhalt erfüllt wird. Wie der Punkt als einfache und einzelne Lage immer nur »im« Raume, d. h., logisch gesprochen, unter Voraussetzung eines Systems aller Lagebestimmungen, möglich ist – wie der Gedanke des zeitlichen »Jetzt« nur in Rücksicht auf eine Reihe von Momenten und auf die Ordnung und Folge des Nacheinander, die wir »Zeit« nennen, sich bestimmen läßt – so gilt das gleiche auch für das Ding- und Eigenschaftsverhältnis. In all diesen Verhältnissen, deren nähere Bestimmung und Zergliederung Sache der speziellen Erkenntnistheorie ist, zeigt sich derselbe Grundcharakter des Bewußtseins, daß das Ganze hier nicht erst aus den Teilen gewonnen wird, sondern daß jede Setzung eines Teils die Setzung des Ganzen, nicht seinem Inhalt, wohl aber seiner allgemeinen Struktur und Form nach bereits in sich schließt. Jedes Einzelne gehört hier schon ursprünglich einem bestimmten Komplex an und bringt die Regel dieses Komplexes in sich zum Ausdruck. Erst die Gesamtheit dieser Regeln aber macht die wahrhafte Einheit des Bewußtseins als Einheit der Zeit, des Raumes, der gegenständlichen Verknüpfung usf. aus.

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 Das Bewußtseinselement verhält sich zum Bewußtseinsganzen nicht wie ein extensiver Teil zur Summe der Teile, sondern wie ein Differential zu seinem Integral. Wie in der Differentialgleichung einer Bewegung diese selbst ihrem Verlauf und ihrem allgemeinen Gesetz nach ausgedrückt ist, so müssen wir die allgemeinen Strukturgesetze des Bewußtseins schon in jedem seiner Elemente, in jedem Querschnitt von ihm mitgegeben denken – jedoch nicht mitgegeben im Sinne von eigenen und selbständigen Inhalten, sondern von Tendenzen und Richtungen, die schon im Sinnlich-Einzelnen angelegt sind. Alles »Dasein« im Bewußtsein besteht eben darin und ist nur dadurch, daß es alsbald in solchen verschiedenartigen Richtungen der Synthesis über sich hinausgeht. Wie das Bewußtsein des Augenblicks schon den Hinweis auf die Zeitreihe, das Bewußtsein einer einzelnen räumlichen Stelle schon den Hinweis auf »den« Raum als Inbegriff und Allheit der möglichen Lagebestimmungen in sich schließt, so waltet allgemein eine Fülle von Beziehungen, durch welche im Bewußtsein des Einzelnen zugleich die Form des Ganzen ausgedrückt ist. Nicht aus der Summe seiner sinnlichen Elemente (a, b, c, d …), sondern gleichsam aus der Gesamtheit seiner Beziehungs- und Formdifferentiale (dr1, dr2, dr3 …) baut sich das »Integral« des Bewußtseins auf. Die volle Aktualität des Bewußtseins bringt nur das zur Entfaltung, was der »Potenz« und der allgemeinen Möglichkeit nach schon in jedem seiner Sondermomente beschlossen liegt. Damit erst ist die allgemeinste kritische Lösung für jene Frage Kants erreicht, wie es zu denken sei, daß, weil »etwas« ist, dadurch zugleich ein »Anderes«, von ihm völlig Verschiedenes sein müsse. Das Verhältnis, das, vom Standpunkt des absoluten Seins betrachtet, um so paradoxer erscheinen mußte, je schärfer es betrachtet und analysiert wurde, ist das notwendige, das aus sich unmittelbar verständliche, wenn es vom Standpunkt des Bewußtseins gesehen wird. Denn hier gibt es von Anfang an kein abstraktes »Eines«, dem in gleich abstrakter Sonderung und Loslösung ein »Anderes« gegenübersteht, sondern das Eine ist hier »im« Vielen, wie das Viele »im« Einen ist: in dem Sinne, daß beide sich wechselseitig bedingen und sich wechselseitig repräsentieren.

 

Aus "Philosophie der Symbolischen Formen", Band III, Teil II, Kapitel III

Eben in dieser Hinsicht aber zeigt sich, daß die Konzeption der verschiedenen »Geometrien« und daß die Bildung des  Raumbegriffs, der jeder von ihnen zugrunde liegt, nur einen Prozeß weiterführt, der schon in der Gestaltung des empirischen Raumes, des Raumes unserer Sinneserfahrung, angelegt und vorgebildet ist. Denn auch dieser kommt nur dadurch zustande, daß eine Vielheit von Erscheinungen, von einzelnen optischen „Bildern", zu Gruppen zusammengefaßt wird, und daß diese Gruppen als Darstellungen ein und desselben „Gegenstandes" genommen werden. Die wechselnden Einzelerscheinungen bilden fortan für uns nur die Peripherie; und von jedem Punkte derselben gehen gewissermaßen Spitzen aus, die unsere Betrachtung in eine bestimmte Richtung lenken - die sie immer wieder auf die gleiche Dingeinheit, als Zentrum, zurückführen. Und auch hier besteht - wenngleich nicht in demselben Umfang und Ausmaß wie im Aufbau des rein geometrischen Symbolraumes - die Möglichkeit, diese Mittelpunkte verschieden anzusetzen. Der Bezugspunkt selbst kann verschoben werden; die Art der Beziehung kann wechseln : und jedesmal gewinnt bei einem solchen Wechsel die Erscheinung nicht nur eine andere abstrakte Bedeutung, sondern auch einen anderen konkret-anschaulichen Sinn und Gehalt. In besonders prägnanter Art tritt dieser Wandel im anschaulichen Sinn räumlicher Gestalten an den bekannten Phänomenen zutage, die man unter dem Titel der „optischen Inversion" zusammenzufassen pflegt. Ein und derselbe optische Komplex kann bald in diesen, bald in jenen räumlichen Gegenstand umgebildet, kann jetzt als dieses, jetzt wieder als ein anderes Objekt „gesehen" werden. In solchen Inversionen handelt es sich, wie man mit Recht betont hat, weder um Urteilstäuschungen, denen wir unterliegen, noch um bloße »Vorstellungen«, die wir uns »machen«, sondern um echte Wahrnehmungserlebnisse. In alledem bewährt sich uns von neuem, wie der Wechsel der »Sicht« auch das Gesehene alsbald zu einem wahrnehmungsmäßig-anderen macht; wie jede Verschiebung des Blickpunktes auch das Erblickte, rein in seinem phänomenalen Bestand, umgestaltet. Je weiter das Bewußtsein in seiner Formung und Gliederung fortschreitet, und je mehr seine einzelnen Inhalte „bedeutsam" werden, d. h. je mehr sie die Kraft gewinnen, auf andere „hinzuweisen", um so mehr wächst die Freiheit, mit der es, durch einen Wechsel der „Sicht", eine Gestalt in eine andere umwandeln kann.

Daß dieser Akt der Konzentration, als ein Akt der Zentren-Bildung und Zentren-Schaffung, auf eine produktive geistige Grundfunktion zurückgeht, und daß er demgemäß aus bloß reproduktiven Prozessen niemals vollständig erklärbar ist, hat sich bereits gezeigt.