Es gab Zeiten, da galt Leiden als gut, weil es einem höheren
Zweck diente, dem späteren himmlischen Glück. Von anderer Warte aus wäre dies
ein umfassenderes Glück, da es ja
viel länger halten soll. Nicht unlogisch, nur eingleisig.
Denn hinter der gefühlten Disharmonie des Leids verbergen
sich auch unmittelbare Harmonien:
Unter der Trauer ist Liebe, die finanzielle Enge schreit nach geistiger
Beweglichkeit, und in der Krankheit liegt Stille zum Erkennen. Nur wenn wir es
nicht wahrhaben wollen, wenn wir die höhere Harmonie des Ganzen verleugnen,
packt uns die Verzweiflung.
Das bedeutet nicht, dass wir andernfalls nicht leiden
würden. Das Leid ist schon echt. Doch dahinter öffnet sich nun der tröstende Ozean
des umfassenderen Zusammenhangs, aus dem heraus alles einen Sinn ergibt, auch
wenn wir ihn (noch) nicht ganz verstehen. Würden wir das, hielten wir es sogar
für möglich, eine so leidvolle Erfahrung freiwillig erschaffen zu haben, um
einen höheren Wert zu begreifen.
Was heißt hier "höherer Wert"? Da ist zum einen
der innere Wert, wenn wir einsehen, dass wir uns geistig-seelisch neu
orientieren müssen und dies der Entwicklung unseres wahren, umfassenderen
Selbst dient. Und da ist zum anderen der Wert für andere, deren
Wechsel-Beziehung mit uns in die Selbstdefinition eingeht und aus der heraus
wir unsere individuellen Werte festlegen. Obwohl die bewusste Gemeinschaft recht flach ist im Vergleich zur gesamten Bewegung, die unser Gewahrsein (II)
erfüllt, sind die inneren Werte individualisierte gesellschaftliche Werte, denn sie entstehen aus der unbegrenzten
Verflechtung des Unterbewusstseins.
Deshalb verstehen wir auch fast alle - aber auf
individuelle Weise - was Liebe ist, oder Mitgefühl. Oder das Streben nach
Vortrefflichkeit. Und wir spüren, dass auch Angst und Wut einem höheren Zweck
dienen, solange wir sie nicht selbst von ihm trennen. Ist uns das klar
geworden, erleben wir sie als weniger unangenehm. Wir können die Angst annehmen, verstehen und loslassen.
Überschüssige Wut können wir in Kreativität umwandeln.
Viele Menschen nehmen fehlendes Glück und sogar Leid in Kauf,
um ein höheres Ideal zu verwirklichen, auch im kleinen Rahmen. Selbst wenn es
nur ein schwer beschreibbarer Impuls ist und für die Zukunft ebenso wenig
Freude verspricht. Aber nur dann, wenn sie den Sinn spüren. Sinn ist also das Empfinden einer Werterfüllung.
Glückseligkeit stellt sich dazu ein, wenn wir auch oberflächlich harmonieren -
mit Menschen, Ideen, der Natur, uns selbst. Eine tiefere Wahrheit jedoch ist
eine höhere Harmonie, da sie im
Hintergrund viel mehr Perspektiven verbindet. Sie nimmt wenig Rücksicht auf
unser vordergründiges Fühlen. Allerdings bewirkt sie jenes Empfinden von
Werterfüllung, wenn man sich auf sie einlässt.
Und damit ist sie immer sinnvoll.
Man kann natürlich sagen, der Sinn des Lebens sei vor allem
Erfahrung. Im weitesten Sinn. Oder alles sei von Natur aus vollkommen. Im
höchsten Sinn. Das kann nicht falsch sein, wenn man es aus einem Gewahrsein göttlicher
Fülle heraus betrachtet, die sich selbst um alles Mögliche bereichert, indem
sie sich vervielfältigt. Es ist auch der letzte Trost, wenn uns sonst nichts
Sinnvolles zu umgeben scheint.
Hier und jetzt wünschen wir uns aber vielleicht etwas mehr "Durchgriff"
von oben, eine auch vordergründige Harmonie. Dabei sind wir selbst Geschöpfe
höherer Vollkommenheit und können uns daher schöpferisch um unser Wohl bemühen.
Sobald wir allerdings auf Werterfüllung zugunsten oberflächlichen Glücks verzichten, entziehen wir ihm die
Grundlage. Und zwar jetzt gleich, auch wenn wir es erst später deutlich spüren.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch