Über Menschen urteilen

Über andere Menschen zu urteilen heißt noch nicht, sie zu verurteilen. Es ist einfach eine Wahl, die natürlich immer eine Wertung, eine Gewichtung, bedeutet. Eine solche Wertung mag aber über bloße Vorliebe hinausgehen, indem sie Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Das ist der Punkt, an dem sie mit den Wertungen anderer kollidieren kann.

Jeder Allgemeinheitsanspruch ergibt sich jedoch aus einem Bezug, einer gefühlten Verbundenheit oder Identifikation mit dem anderen und ist deshalb nicht beliebig. Die Frage lautet vielmehr, welcher Art die Verbundenheit ist.

Mit einem achtsamen Anspruch erkennen wir die Möglichkeit des eigenen Irrtums an und respektieren die Freiheit des anderen, ohne dessen Werten gegenüber gleichgültig zu sein. Wir sind uns des anderen als solchem gewahr, "sorgen" uns um dessen Wohl und wissen es als Teil unseres eigenen. Wir interessieren uns für ihn und wollen ihn deshalb verstehen.

Wenn wir den anderen klein machen, verkleinern wir uns selbst, denn wir haben nun weniger von ihm. Auch wenn wir im üblichen Sinn nichts von ihm bekommen, machen wir uns kleiner, denn wir können uns kein bisschen mehr mit ihm identifizieren, ohne an uns selbst zu verlieren.

Hätten wir uns ohne den anderen herabzusetzen noch kleiner gefühlt, haben wir uns jetzt außerdem an eine Illusion eigener Größe verkauft, die uns nicht lange und nicht wirklich befriedigt. Auf diese Weise verlängern wir das Leiden an unserer ebenso eingebildeten Minderwertigkeit.