Individualität und Realität

Ihre Individualität ist viel mehr als ein wenig Eigenart. Es ist eine Sicht, die nichts und niemand außer Ihnen hat. Denn sonst wäre es/er Sie selbst. Auch Sie haben Ihre Perspektive - sich selbst - schon im nächsten Moment verändert und können die Zeit nicht mehr zurückdrehen.

Der Bequemlichkeit halber verständigen wir uns auf "gemeinsame" Gegenstände, die angeblich jeder wahrnimmt, obwohl jeder aus seinem eigenen Winkel blickt. Wenn Sie sehen, wie ich einen Bleistift zu Ihnen über den Tisch rolle, glauben Sie vielleicht, es wäre derselbe Stift, den ich sehe. Doch ich sehe etwas völlig anderes als Sie. Es gibt nicht die geringste Übereinstimmung zwischen meiner Wahrnehmung und Ihrer. Denn sonst würde ich an Ihrer Stelle sitzen, Ihre Gedanken, Erinnerungen und Gefühle haben und damit eine auf mich zurollende Form verknüpfen.

Wenn wir beide von einem einzigen Stift sprechen können, dann weil wir uns schon als Kinder darüber geeinigt haben, was wir näherungsweise als gemeinsames Objekt und genauer als Stift ansehen wollen. Das taten wir vorher auch für uns selbst, indem wir unseren eigenen Blickwinkel wechselten und uns dabei die relative Beständigkeit gewisser Formen auffiel. Sollten Sie jetzt erkennen, dass "jemand" so ein Näherungsobjekt über den Tisch rollt, haben Sie wieder kurz den Blickwinkel gewechselt, das heißt, Sie haben sich annähernd in seine Perspektive versetzt und sind in Ihre eigene zurückgekehrt. So können Sie schlussfolgern, da rolle ein gemeinsames Objekt, das "nur" von unterschiedlichen Seiten gesehen wird. Eigentlich aber haben Sie zwei unteilbare Wahrnehmungen über mehrere Schritte zu einer Einheit verschmolzen, die einen "Teil" Ihrer eigenen Wahrnehmung betont (Stift) und dazu einen "Teil" der Wahrnehmung des anderen, die sie gerade "ausspioniert" haben (Stift).

Die einzigartigen Perspektiven erzeugen also in gegenseitigem Austausch eine näherungsweise Gemeinsamkeit, einen sogenannten realen Stift.

Die verbreitete Annahme eines von Perspektiven unabhängigen Stifts führt dagegen ins Leere, wenn man immer weiter fragt "woraus" er besteht: aus Molekülen, diese aus Atomen, diese aus Elementarteilchen, diese aus Feldern und diese aus Veränderungsgesetzen. Doch Veränderung wovon? Es ist eine Endlosschleife.

Allerdings vermag kein Konzept bisher zu erklären, warum ein rollender Bleistift recht stabil sein kann: Weder zerbricht er noch wechselt er die Richtung, wenn ich es nur denke. Ich muss ihn dazu anfassen. Und dann ändert er sich gleich für uns beide (unter der Bedingung, dass wir beide "dorthin" sehen).

Im Perspektivenaustausch-Konzept müssen wir deshalb von noch weitgehend unbekannten (nicht bewussten) Vorgängen ausgehen, die unsere Wahrnehmung stabilisieren. Deren Wirkung muss mit nachgewiesenen physikalischen Gesetzmäßigkeiten übereinstimmen. Beides ist konsequent.

Das Konzept einer unabhängigen Realität ist dagegen eine Krücke, mit der man Stabilität in nicht wirklich verstandene Gegenstände hineinprojiziert und so die individuellen Wahrnehmungen größtenteils darin versteckt. Das ist nicht konsequent.

Die Makro- und Mikrophysik stelle ich damit nicht in Frage. Sie beschreibt, wonach sie sucht, vor allem Prozesse "gemeinsamer" Gegenstände. Doch man muss auch sagen: Wenn Physik nicht fundamental ist, sondern alles im Grunde individuell bleibt, muss es noch auf andere Weise erklärt werden, und Physik wird zwar nicht überflüssig, aber nachrangig. Psychologische Zusammenhänge werden eine wichtige Rolle spielen, doch auch sie sind nicht grundlegend genug. Vielmehr sind zuerst die abstraktesten und einfachsten Strukturen von Bewusstsein heranzuziehen.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem theoretischen Teil meines Buches
Wahrhaftigkeit. Mit welchem Bewusstsein wir Realität erschaffen

Empfohlenes Buch:

Bewusstsein als I-Struktur. Das Spiel der Unendlichkeiten